Suicide 2.0 – Gedanken zur digitalen Sterblichkeit
Während sich zum Anfang des Internethypes, naja und vereinzelt auch heute noch, die ganz Besorgten unserer Mitmenschheit die post-elementare Frage stellten, was denn mit ihren im achso-schlimmen WWW publizierten Daten nach ihrem Dahinschied geschehe, scheinen deren Nachkommen, die sogenannten und selbsternannten „digital natives“ heutzutage eher bereits die Rasierklinge anzusetzen, wenn mal nur für eine Stunde der hauseigene Traffic sinkt.
Seit 10 Minuten keine WhatsApp-Nachricht? – Drama! Warum reagiert niemand auf meinen Tweet, den ich vor 5 Minuten in die wundervolle weite Welt wichste? – More drama! 2 Likes weniger als gestern auf meinem Fratzenbuch? – Mama, wo ist meine Waffe?
Nun, die Vorsorge für den Übergang in das scheinbar immer noch internetfreie Jenseits – wir warten geduldig auf eine Cloud, die ihrem Namen auch gerecht wird – ist mittlerweile plan- und durchführbar, bietet doch beispielsweise Datengigant Google eine Art Online-Testament an, in welchem eine Kontaktperson hinterlegt werden kann, die im Falle des allerletzten Falles und Nicht-wieder-Aufstehens eine Zugangsberechtigung für alle mit Google verknüpften Accounts des Analog- wie auch nun Digital-Toten erhält und mit dessen Online-Nachlass folglich anstellen kann, was und wie er/sie es mag beziehungsweise in dem Sinne verfährt, wie im Testament vom dauerhaft Inaktiven verfügt. Sinnigerweise, und von aller Emotionalität oder gar Pietät befreit, nennt Tante Google diese Option „Inactive Account Manager“… süß!
Meinereiner hätte so etwas ansatzweise Poetisches wie „Dead Man’s Web-Trash Legacy“ oder ein griffiges „Digimortalizer“ viel passender gefunden, aber naja.
Aber was tun mit den armen, weil noch lebenden, aber scheinbar nicht oder temporär nicht mehr (und von ihnen gefühlt nimmermehr) beachteten Subjekten und ihrer ewigen Unrast? Sie liebevoll mit „Ich hab dich soooo schrecklich liiiieb und finde dich furchtbar interessant und zwar ALLES von dir!“-schreienden Retweets zuschütten? Ihre bei ebay feilgebotene Seele mit dem Mindestgebot bedenken? Ihnen mal gehörigst, und zwar in Form eines handgeschriebenen Briefs, die Leviten lesen und zu verdeutlichen, dass der Nabel der Welt immer noch nicht der Ihrige ist und dass mich die drei morgendlichen Gänge zum Abort und die dabei zurechtgeschissenen Gedanken zum späten studentischen Frühstück nicht die Bohne interessieren? Oder sie durch Ignoranz in Reinkultur in Unfrieden ruhen lassen samt all ihren Avataren? Schrecklich unsozial.
So manchem würde ich wohl gerne ein liebevoll selbstgebasteltes Video-Tutorial für den „Inactive Account Manager“ zukommen lassen… wahrscheinlich Perlen vor die Säue, da ich den allermeisten dieser beachtungsnotgeilen Geschöpfe jeglichen Kunstverstand abspreche. Hinzu gesellt sich zudem noch der Segen der verflucht kurzen Aufmerksamkeitsspanne dieser ritalinresistenten Banausen, belassen sie doch nicht einmal mehr für die Dauer von dreieinhalb Minuten Popsonglänge ihre Augen und Gedanken bei ein und derselben Sache.
Doch bei aller hier dargebotenen Flapsigkeit und Häme hege ich doch auch ernsthaft Mitgefühl und Sorge mit jenem Teil der ganz neuen Generation. Und als Verfasser dieser und anderer Zeilen, welche ich bewusst ins Netz stelle, damit sie hoffentlich gelesen werden und das ein oder andere Echo erzeugen mögen, bin ich mir sehr bewusst, dass ein jeder nach Beachtung und Anerkennung sucht. Denn ob nun von Angesicht zu Angesicht ausgesprochen oder in virtueller, geschriebener Form… Feedback ist definitiv für jeden gut, auch Kritisches! Ebenso gut und gesund ist jedoch das Finden und Leben eines Maßes. Das Leben ist Realtime und diese knapp bemessen, und so sollten wir alle etwas bewusster mit diesem Gut umgehen.
So bleibt mir nur ein bescheidener Rat: geht mal wieder raus an die Luft, verbringt Zeit mit Familie und Nicht-Facebook-Freunden, nehmt euch ein Buch oder für den Anfang auch ein dünnes Reclamheftchen mit in den Park, setzt euch Kopfhörer auf und lauscht Klängen, die eurem Ohr und Hirn schmeicheln (thematisch böte sich hier z.B. Fear Factorys „Digimortal“-Album wunderbar an), reist um die Welt oder auch nur mal kurz um den Block, fahrt Fahrrad oder Rollbrett, geht, springt, lauft… um oder für euer Leben – oder besorgt euch eines! Und zwar keines bei Farm Heroes… sondern schön, klassisch, offline! Ist gut fürs Gleichgewicht, und das Internet samt eurem Kram gibt es morgen auch noch.