Interview: KEVIN RUSSELL – Süchtig nach Leben

Kevin Russell Veritas Maximus ©Peter Jülich

Schon während ihrer aktiven Zeiten waren die Böhsen Onkelz alles andere als Medienlieblinge und besonders Sänger Kevin Russell machte des Öfteren durch exzessiven Alkohol- und Drogenkonsum von sich Reden. 2009, lange nach dem Bandaus, kam es dann zu jenem folgenschweren Autounfall, der Kevin schließlich, so schien es, für eine ganze Nation zum Sinnbild des schlechten Menschen werden ließ. Entsprechend zwiespältig wird sein aktuelles musikalisches Comeback beäugt. Ich traf Kevin Russell vor seinem Auftritt in der ausverkauften Turbinenhalle in Oberhausen für ein ausführliches Gespräch. 

In Oberhausen scheint es an diesem 21. September fast, als hätte das Ende der Ära Böhse Onkelz nie stattgefunden. Wer an diesem Abend kein Shirt jener deutschen Rockband, die zweifelsohne Geschichte schrieb, trägt, fällt aus dem Rahmen. Aus den Autoanlagen ertönen verschiedenste Onkelz-Hits, die wartende Menge singt, feiert ihren Helden bereits lange vor seiner Ankunft. Schließlich werde ich backstage zu einem gemütlichen Raum mit Sofa geführt, wo er bereits auf mich wartet: der respektlose Junkie, der pöbelnde Provokateur, der reuelose Todfahrer – so der Tenor der Presse in den vergangenen Jahren. Mich begrüßt hingegen ein freundlich witzelnder, redegewandter und belesener Mann, der sich seiner selbst, im Guten wie im Schlechten, mehr als bewusst ist und dessen jede einzelne Pore dem bevorstehenden Konzert entgegenfiebert.

Das Wunder Mensch

Der jahrzehntelange Drogen- und Alkoholmissbrauch hat Spuren hinterlassen. 35% seiner rechten Gehirnhälfte mussten Kevin infolge einer schweren Meningitis entfernt werden, chronische Lungenentzündung, ebenfalls chronisches Asthma. Manchmal, auch auf der Bühne, fehlen im einzelne Worte, sie sind schlicht weg, obwohl er sie ein ums andere Mal gesungen hat. Doch Kevin geht es gut, klagen liegt ihm fern: „Es ist ein medizinisches Wunder, dass wir beide hier heute sitzen und vielmehr noch, dass ich in der Lage bin, dreieinhalb Stunden auf der Bühne alles zu geben. Der menschliche Körper ist eine wahre Regenerationsmaschine.“ Eine Maschinerie, die ihm exzessiven Rauschmittelkonsum verziehen hat, der für den Normalsterblichen mehr als einmal tödlich gewesen wäre. Letale Dosen reinsten Kokains, notfalls auch durch die Augenschleimhaut, Jägermeister, in die Venen injiziert, wenn oral der gewünschte Effekt ausblieb: Die Betäubung von Angst, deren Überwindung unerreichbar schien. „Vor Auftritten, das war 25 Jahre lang kein Lampenfieber, vielmehr hatte ich blanke Panik dem allen nicht gewachsen zu sein“, erinnert sich Kevin, „heute kann ich zum ersten Mal im Leben vollen Bewusstseins genießen auf der Bühne zu stehen. Angetrieben von Adrenalin, berauscht durch Glückshormone – DAS ist ein verdammt geiles Gefühl, das keine Droge dieser Welt ersetzen kann!“ Eine späte Einsicht, bei der jedoch trotz allen Bedauerns über den verzögerten Zeitpunkt, die Freude über deren Existenz überwiegt. Kevin schießt sich voll mit Leben – und es funktioniert.

Lebensrettender Verkehrsunfall

Für seine Einsicht bezahlte Kevin einen teuren Preis und mit ihm die beiden Opfer des tragischen Autounfalls Ende 2009, zu dessem genauen Hergang sich Russell nachwievor in Schweigen hüllt, obschon er auch hier, wie es allgemein seine Art ist, kein Blatt vor den Mund nimmt: „Ich werde mich zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ich alle Informationen gesammelt habe, ganz genau dazu äußern. Dennoch muss ich ganz klar sagen, dass das meiste, was besonders die Bildzeitung geschrieben hat, schlicht falsch ist. So stand ich beispielsweise mitnichten unter akutem Drogeneinfluss. Dass im Blut eines so exzessiven Konsumenten, wie ich einer war, Restbestände zu finden sind, ist wenig verwunderlich. Und, was mir besonders wichtig ist: Ich bin keineswegs eiskalt vom Unfallort getürmt!“ Erst nachdem Kevin sich vergewissert hatte, dass die Insassen des Unfallwagens in Sicherheit waren und Hilfe unterwegs war, suchte er sein Glück in der Flucht zu Fuß. Auf den ersten Blick mutet es vielleicht seltsam an, von Glück zu sprechen, doch im Endeffekt stellte es sich, für Kevin ganz persönlich, als genau eben solches heraus: „Ich wusste, dass ich es für mich durch die Flucht noch schlimmer mache, aber ich konnte in dem Moment nicht anders. Wäre ich nicht davongelaufen, ich schwöre dir, wir säßen heute nicht hier. Hätte ich mich sofort vor Ort dem Ganzen gestellt, wäre ich wohlmöglich mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Ich hätte weiter Drogen genommen und wäre heute vermutlich tot.“ Vor dem Unfall hatte sich Kevin bereits aufgegeben. Clean sein – davon wagte er nicht mal mehr zu träumen. „Der Unfall hat mein Leben nicht nur verändert, er hat es gerettet. Das war Schicksal! Leider Gottes waren die negativsten Momente in meinem Leben im Endeffekten die positivsten.“

Personifiziertes Mahnmal

Vielen missfällt, dass jener reuelose, im Gericht seine Opfer verhöhnende, Todfahrer, wie es in den Medien hieß, aus dem Unfall und der darauffolgenden Haftstrafe mit verbundenem kalten Entzug etwas Positives zieht und er gar den Weg zurück auf die Bühne gesucht hat. „Ich bereue zutiefst, dass dieser Unfall passiert ist. Aber er ist passiert und die beiden Beteiligten, über deren Rehabilitation ich mich ständig auf dem Laufenden halte, haben keine lebensbedrohenden Schäden zurückbehalten, wurden finanziell großzügig entschädigt. Es tut mir leid, aber im Endeffekt war es ein Autounfall. Ich bin kein Kinderschänder oder sonst was“ erklärt Kevin, der für all jene, die ihm das Anrecht auf Resozialisierung absprechen, kein Verständnis aufbringen kann. Die Rückkehr auf die Bühne ist seine Heimkehr in den gewohnten und vor allem auch geliebten Beruf. Doch über den musikalischen Aspekt hinaus, hat Kevin eine Mission, die ihm noch mehr am Herzen liegt als alles andere: „Schicksal, ich glaube daran. Das höhere Wesen da oben will, dass ich durch mein Beispiel und meine Einsicht, und ich habe die Weisheit wirklich mit Löffeln gefressen, anderen helfe, von den Drogen wegzukommen. Wer, wenn nicht ich, kann zeigen, dass es selbst in größter Verzweiflung einen Weg raus aus der Sucht gibt? Ich will Leute zur Therapie bewegen. Wenn ich es am Ende bei einer Handvoll Menschen geschafft habe, dann habe ich diese mir selbst auferlegte Mission erfüllt!“ Zu diesem Zwecke arbeitet Kevin eng mit der therapeutischen Einrichtung auf der Lenzwiese zusammen, die auch ihn bei seinem Entzug gestützt hat, investiert, renoviert und hilft wo er kann.

Veritas Maximus

Kevin beginnt sein neues Leben mit alten Liedern und sieht sich auch hier mit dem Spott der Presse konfrontiert: „Man wirft mir vor, dass ich zu sehr auf der Onkelz-Schiene reite, dass ich mich selbst covern würde. Darüber könnte ich mich totlachen. Wie kann ein Sänger sich selbst, eine Band, die er verkörpert hat, covern? Hier sind so viele junge Fans, die nie die Möglichkeit hatten, mich live zu sehen. Die wollen genau das und diese Lieder gehören zu mir und meinem Leben.“ So werden Veritas Maximus, seine neue Band, und er, immer auch Stücke der Onkelz spielen, „bestmöglich aufgepimpt“, wie Kevin selbst es beschreibt, auch dann, wenn Anfang nächsten Jahres das erste eigene Album erscheinen wird. „Viele trauen mir nicht mal zu, selbst Texte zu schreiben. Die werden sich alle wundern, denn es steht ein lyrischer Rundumschlag bevor, von der Kirche über Tierquälerei bis hin zur Bildzeitung. Jeder kriegt sein Fett weg und die Platte wird einschlagen wie eine Bombe, da bin ich mir sicher!“ Ein neues, exzessives, leidenschaftliches, aber drogenfreies Leben mit und für die Musik. Alternativen, etwa die Rückkehr in seinen Beruf als Tätowierer, hätte es zu genüge gegeben, doch Kevin sieht sein Schicksal auf der Bühne: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“

Live on Stage

Und die Zuschauer in Oberhausen danken ihm seine Berufung an diesem Abend in jeder einzelnen Sekunde. Kein Song, der nicht voller Inbrunst mitgesungen wird von einer Menschenmasse, die der Turbinenhalle die Luft zum atmen raubt. Veritas Maximus werden nicht müde und bieten eine dreieinhalbstündige Zeitreise durch Liedgut, dass nicht nur Kevin, sondern auch den Großteil des Publikums durch gute wie auch schlechte Zeiten hat. Keine Frage, hier prangert niemand seinen Star des Abends an, Kevin genießt uneingeschränkte Sympathie und saugt, soviel sieht man ihm an, die Zuneigung seiner Fans tief in sich auf. Und wer weiß, vielleicht geht für viele von ihnen im Jahr 2015, wenn die Böhsen Onkelz ihr 35jähriges Jubiläum begehen würden, ein noch viel größerer Traum in Erfüllung: „Ein würdiger Abschluss, ein Konzert, dass ich in vollem Bewusstsein erleben darf, das wäre noch mal was Großes, sowohl für uns als Band, als auch für die Fans. Aktuell stehen die Chancen dafür immerhin schon mal 50/50.“ Man soll eben nie nie sagen…

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Veritas Maximus Official Homepage

Artikel ebenfalls erschienen in Metal Mirror #81 Oktober 2013

6 Kommentare

  • Lyn

    Hallöchen! 🙂

    Hat mich sehr gefreut dich auf dem Konzert kennengelernt zu haben. Hat den Abend aufjedenfall noch besser gemacht. Werde deinen Blog aufjedenfall verfolgen & deine Facebook Seite ist bereits auch geliked 🙂
    Vielleicht sieht man sich ja mal wieder bei einem Konzert. In der Raucherecke oder so 😀

    Liebste Grüße, Lyn aus Köln. Oder doch Nicole aus Bochum?! ;D

  • Tom

    Hey…
    Auch wenn ich die Onkelz oder Dich(Kevin) nie live gesehen habe bin ich der Meinung das ihr die geilste Band der Deutschsprachiger Rock-Geschichte seit!!!
    Ihr hab ganz Deutschland gezeigt was es heißt der Stachel im Arsch der Nation zu sein, ihr habt bewiesen, dass es nicht nötig ist, die Medien zu benutzen um ganz nach oben zu kommen.

    Es wäre für mich eine riesen Freude die 4 Onkelz mal live zu sehen….deshalb hoffe ich, dass es irgendwann ein Comeback der Onkelz gibt. Auch wenn die Chance nur 50/50 steht…..werde ich weiter hoffen!!!

    • Nachbar Franky

      Hallo Kevin,

      Ich stimme dem zu, was der Kollege über die Onkelz oder deine persönlichen Erfahrungen schreibt. Ihr habt so viele Fan’s, junge Fan’s, dazu gewonnen und ich fühle mich beauftragt, das ihr es nochmal versuchen solltet, wie ( Böhse Onkelz ) zurück zu kommen …. es ist viel mehr wie nur Musik … Ihr seid ( nicht wart, seid ) die Besten, Deuschrockmusiker, die Deutschland je hervor gebracht hat, die ich kennen lernen durfte …. was ich für mich schreibe, schreibe ich für die meisten aus der Nation … denn wir wollen die Onkelz hören ….. nur besten Rock ….
      Ich hoffe du hast nicht all zu viel Stress mit Stephan, Matt und Pe … deshalb lasst eure Lieder bitte wieder Live klingen …. es machen sooooooo Viele Band’s auch was nicht heißt, deshalb solltet Ihr es tun, sondern .. weil Ihr es Wert seid ….

      Ich danke schon mal, wenn du das hier liest und vielleicht zurück schreibst …

      Lieben Gruß aus Bielefeld NRW
      Euer Nachbar Franky …. ( Facebook )

  • Hallo kevin,ich ziehe den hut vor dir.bleib so wie du bist,du gehst den richtigen weg……wir sind alle mega stolz auf dich.und ich glaube ich spreche vielen aus dem herzen wen ich sage…komm mit deiner band in die schweiz, z.b. nach basel oder ins z7 nach pratteln,viele können durch familie und kindern nicht die weite strecken durch deutschland unternehmen…..ich denke das würde deine konzerte noch krönen,die schweiz….ganz fette grüsse dirk und claudia

  • dienachtgeburt

    Ihr Lieben,

    ich freue mich, dass euch der Artikel bezüglich des Interviews gefällt. Dennoch befürchte ich, dass eure persönlichen Nachrichten an Kevin über die Kommentar-Funktion hier nicht ihren Adressaten erreichen werden 🙁

  • Janine F.

    Ich nehme 5karten!!!!!!!!

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